Ein Leben lang
Ada Castells
Ada Castells
I
Bei der Kälte gehen wir lieber gleich hinein und verzichten auf eine
Beschreibung der Straßen. Wir befinden uns in Greifswald. Das Jahr? 1774. Im
Innern des Hauses, in das wir geflüchtet sind, stoßen wir auf einen Vater und
einen Priester. Bis ins Wohnzimmer hört man das Keuchen einer Mutter, die gerade
ihr sechstes Kind zur Welt bringt. Die Hebamme wundert sich, dass die Frau nach
so vielen Geburten noch immer derart lange braucht, und mit einer harschen
Stimme,die gar nicht ins Bild passt, treibt sie sie an:
„Pressen!“
Die
übrigen fünf Kinder sitzen mit den Mägden in der Küche. Der älteste Sohn liest
laut aus der Bibel vor. Fast schreit er, damit die Kleinen nicht die Flüche der
Hexe hören, die ihrer Mutter bei der Entbindung hilft. Da ist auch noch ein
Hund, zusammengerollt unter dem Tisch, wie auf einem Brueghel’schen Gemälde. Aus
künstlerischer Sicht hat das Tier nur eine Funktion: es soll dem Bild einen
Hauch menschlicher Wärme vermitteln.
Und da ist noch etwas: Im ganzen Haus
stinkt es nach Seife und Kerzen, die der Vater aus Robbenfett und Ätznatron
fertigt. Einmal im Monat rührt er beide Zutaten in einem Kessel zusammen, und
noch Tage danach hängt in allen Räumen ein säuerlicher Dunst. Die Mischung wird
erst im April angenehm, wenn der Meister Essenzen für die Toilettenseifen
daruntermengt. Im Nu verwandelt sich das Haus der Friedrichs dann in ein Meer
aus Wohlgerüchen, was den Bewohnern peinlich ist. Für strenggläubige Lutheraner
ziemt sich der frühlingshafte Geruch nach Lavendel nicht.
Vorhin habe ich
Greifswald erwähnt. Jetzt will ich etwas ausführlicher sein. Die Stadt liegt im
Norden Deutschlands, unterstand damals aber infolge des Dreißigjährigen Krieges
der schwedischen Krone. Mit dem Wiener Kongress fiel sie 1815 an Preußen zurück.
Doch weiter. Die Gebärende brüllt immer verzweifelter. Der Sohn liest die
Bibel jetzt mit Stentorstimme, was an Respektlosigkeit grenzt. Die Geschwister
und die beiden Dienstboten verkneifen sich das Lachen. Der Hund, der von allen
der Frömmste ist, knurrt. Schon zum zwanzigsten Mal laufen der Vater und der
Priester durch den Flur. Ihre Wege kreuzen sich, ohne dass sie je
zusammenstoßen, was beweist, dass sie Gottvertrauen haben und der Glaube sie
beschützt. Endlich hört man einen schleimigen Schwupp und ein Kind, das weint.
Da ist er also. Man verkündet: Es ist ein Junge. Wir indes wissen: Es ist ein
Maler.
Müde schaut die Wöchnerin auf ihren Sprössling, als wäre der nicht
Blut von ihrem Blut, dabei ist alles ringsum, die Hebamme inbegriffen, mit dem
warmen, heiligen Nass bespritzt. Sie müht sich, die Plazenta herauszudrücken.
Deutlich spürt sie den gezielten Griff der Hexe, die sie ernst vorhin so grob
behandelt hat. Das Kindchen, eben noch Teil ihres Körpers, hat sie fast
vergessen, so erniedrigt kommt sie sich vor, und nur allein sein, schlafen will
sie.
„Lasst mich in Ruhe!“
Jemand beugt sich herunter und legt ihr das
Neugeborene, fest in Tücher gewickelt wie eine Larve, in den Arm. Sie hat das
Gesicht abgewandt. Sie fühlt sich schmutzig, erschöpft. Noch sieben Jahre wird
sie durchhalten, vier Mal noch gebären, um schließlich vor lauter Erschöpfung zu
sterben, an so viel Leben geben.
CASTELLS, Ada. Ein Leben lang [Tota la vida], Berlin: Bloomsbury, 2007,
p. 9-11.
Traduït per Charlotte Frei