El Jardí dels Set Crepuscles

Miquel de Palol
Miquel de Palol

Die Flucht

Barcelona glich beim ersten atomaren Alarm in seiner Geschichte einer Hekatombe. Abgesehen von der herrschenden Panik und Fassungslosigkeit, war es für diejenigen, die sich wie ich ein Nachdenken gestatten konnten, am erstaunlichsten zu sehen, wie das Leben der Stadt und des Landes, wie Aufbau und Ordnung, der übliche Ablauf der Dinge, alles, was im Normalfall als notwendiger Zwang aufgefaßt wird, innerhalb von ein paar Tagen zusammengebrochen war, so als hätten wir unter einer riesigen Eiterblase gelebt, die nur auf einen Stich wartete, um aufzuplatzen. Zwei entgegengesetzte Phänomene waren die Hauptverursacher des Chaos. Einerseits war es die Lawine hungriger und blutüberströmter Franzosen (vor allem Franzosen, es kamen aber auch Engländer und Belgier), die in ihren, schon früher von der Verheerung heimgesuchten Ländern überlebt hatten; als man darüber nachdachte, wie man ihrer Herr werden könnte, waren sie bereits im Besitz sämtlicher Hilfsmittel. Zum anderen der verrückte und oft selbstmörderische Wahn der Einwohner Barcelonas, die, von der kollektiven Neurose angesteckt, die Stadt verlassen wollten, ein Ansinnen, in dem sie durch die fehlende öffentliche Unterstützung und die Aussage eines verantwortungslosen Journalisten, sie wären das nächste Angriffsziel der Atomraketen, noch bestärkt wurden. Barcelona war eine der am schwersten zu evakuierenden Städte der Welt; schon ein paar Stunden nach Ausbruch der allgemeinen Panik war der Verkehr auf den Ausfallstraßen hoffnungslos zum Stillstand gekommen; Autos wurden mitten auf der Fahrbahn abgestellt, und man setzte den Weg zu Fuß fort. Die Bahnverbindung war unbeschädigt, doch mangelte es an Zügen, um sie zu nutzen. Man hatte eine Evakuierung über den Seeweg versucht, was zunächst gut ging, doch bald erlitt der Großteil der auslaufenden, von Menschen und Hausrat überladenen Boote Schiffbruch, und der Hafen war voller Strandgut und im Wasser treibender Leichen. Nach zwei Tagen waren die Ausfahrtswege aus dem Stadtgebiet noch immer verstopft von Flüchtlingen. Fast die gesamte Bevölkerung hatte allerdings die Illusion aufgegeben, überleben zu können; die Stadt platzte vor Ausländern, mittellosen Menschen und Verzweifelten aus den Nähten. Im rasenden Taumel der Bedrohung gab es keinen Zufluchtsort und nichts zu retten. Als dann die Nahrungsmittel ausgingen, begann die Plünderei: Es herrschte das Gesetz des Dschungels; zwielichtige, von Kopf bis Fuß bewaffnete Banden trieben inmitten von Trümmern und Dreck ihr Unwesen. In der Nacht herrschte völlige Finsternis, das einzige Licht stammte von offenen Feuerstellen oder von einem in Brand gesteckten Gebäude. Das Heer versuchte, die Lage unter Kontrolle zu bringen, doch die Patrouillen wurden bald Opfer der Bestechung und verhielten sich genau wie jene Banden, die sie bekämpfen sollten. Die einzigen regelmäßigen Kontrollen fanden noch an den Stadtausfahrten statt, wo Truppen eingesetzt worden waren, um die Leute daran zu hindern, den Weg ohne Versorgung fortzusetzen; irgendein Regierungsmitglied hatte eben darin die Hauptursache für die beträchtliche Zahl an Opfern gesehen, die am dritten Tag auf fünfzig- bis achtzigtausend geschätzt wurde. Unter den Überlebenden, die nicht aus der Stadt hatten entkommen können, herrschte heillose Verwirrung; die städtische Infrastruktur hatte zu funktionieren aufgehört, und das Chaos im gesundheitlichen und sozialen Bereich wurde durch den gänzlichen Mangel an Information noch verschlimmert. Niemand wußte, ob hundert Meter weiter das Risiko kleiner oder größer war, man wußte nichts vom Pulsschlag der Welt, und es schien, als hätte alles, was nicht in unmittelbarer Reichweite lag, zu bestehen aufgehört; nur Barcelona und sein ungewisses Schicksal beschäftigte diejenigen, mit denen ich sprechen konnte. Viele unter ihnen fanden es minder bedeutend, ob eine Bombe auf die Stadt fallen würde oder nicht. Sie meinten, Barcelona könnte nach zwanzigtausend Megatonnen nicht übler zugerichtet sein als jetzt. Die Selbstmorde trugen dazu bei, den Straßenräubern die Arbeit zu erleichtern. Ich gehörte zu jener Minderheit von Schwärmern, die noch immer glaubte, das Abendland würde sich eines Tages wieder aufrichten, und ich wollte leben – ungeheuer neugierig auf die Entwicklung der Dinge.

PALOL, Miquel de. Im Garten der Sieben Dämmerungen. Traducció de Theres Moser. Berlín: Aufbau, 1999, p. 19-21.

Traduït per Theres Moser