Die Spiegel. Der öde Raum

Pere Gimferrer
Pere Gimferrer

V

 

Ich verbinde den Regen mit den Toten. Er kommt sehr langsam,

mit den Disteln und den Knollen, mit der Kälte der Lilie

und mit den teigigen Krumen der gepflügten Erde,

mit den Adern des Blattes, mit den Schatten

und mit dem Flug der Wachtel und mit dem Schrei des Kauzes.

Landeinwärts, zeiteinwärts, im Herzen des Schlamms,

wer weiß davon etwas? Sie warten, denn das ist der Kreislauf

der Fruchtbarkeit. Die Axt, begraben,

leuchtet mit lebhafterem Silber, mit mineralem Feuer.

Und dieses ist das Gesetz. Der Regen wäscht die Furchen

der Räder in der Erde, von so vielen Wagen, die da waren,

und die Trittspuren von Menschen und Pferden. Eine graue und flüssige Haut,

eine unterdrückte Helligkeit, wie von dunklem und undurchsichtigem Stahl,

auf der durchnässten Erde. Hörst du nicht diese Stimmen,

das Lachen von Mädchen an einem Mittag im August?

Siehst du nicht diese rote Bluse? Wie die Wurzel

stochert eine Hand noch in der feuchten Erde, hakenartige

Finger, dürr, mit ausgetrockneter Haut

und aus Hadernpapier. Nein, der Regen gelangt nicht

bis in dieses Reich. Er fällt sehr langsam, er kennt

mit tiefem Erbarmen den Stamm des Olivenbaums

und schleift die kantige Rauheit des Felsens ab,

und im Teich rührt er das sumpfige Wasser auf,

cholerisch von Dünsten, und befeuchtet das Versteck

des Fuchses und den Bau des Hasen und das Nest der Nachtigall.

Er gelangt jedoch nicht bis unter den triefenden Schlamm,

bis unter den Erdklumpen aus poröser Demut,

aus Geduld und aus Licht, bis zum dunkelsten Reich,

bis zum Land des Grolls und der Trockenheit der Toten,

die immer noch feindselige, rostige Hände,

ausgehöhlte Zähne und erigierte und zusammengekrampfte Geschlechtsteile ausstrecken,

mumifiziert, und die sich mit der Gier von Fingernägeln und Staub

die Haut zerfetzen. Wollen sie uns haben

oder verlangen sie nur danach, wieder zu sein? Verlangen sie nach

Zuckung und Zittern und Schmerz?

Verlangen sie denn etwa nach der täglichen

Ungewissheit, danach, sich vom Verlangen hin- und hergerüttelt zu fühlen,

nach dem Keulenschlag des Schreckens, nach der Raserei

der Macht und der Angst vor dem Untergang?

Wagen sie es denn etwa, wieder leben zu wollen?

So wie die Wurzel lebt, so wie die Knolle lebt, so wie

das Gras lebt – werden denn die Menschen nie so leben können,

versöhnt mit einem Schicksal? Werden sie den Kreislauf

der fruchtbaren Zeit und der Zeit der Rückkehr zur Erde nie annehmen?

Für den vielen Schmerz, der schon hinabgewandert ist,

und für diesen Geschmack der Erde, die gerade nass geworden ist,

für das Beben der Luft, wenn der Regen

vor wenigen Augenblicken aufgehört hat und ein Vogel den Flug aufnimmt

in heller Stille, und für diese Farbe

des Vogels, unentschlossen im Blau, der zwitschert,

wenn der Himmel am klarsten ist, für das Leiden,

an das wir uns erinnern, und für die Liebschaften von früher

und für die erniedrigte Unschuld

und für die nie zugegebenen Wünsche,

für all das – werden wir denn dafür nie ein Wort haben?

Der Regen dringt in die Scheunen der alten Bauernhöfe,

lässt das Holz faulen, formt Rinnen auf den Feldern

und nährt die Narzisse. Er hat die Farbe der Asche

und an den Fensterscheiben hat er die Farbe, die die Erinnerungen haben.

Es gibt nur eine Zeit. Die Zeit des Menschen

und die Zeit des Tieres und die der Pflanze

und die Zeit des Felsens sind eins. Dieser Falke,

der jetzt, wie ein Blitz, vom Himmel stürzt,

weiß, wo er hinsteuert, so wie der Stein, der auf dem Grund der Zisterne

in einem Aufblitzen des Wassers sein Schicksal sieht.

Sie sehen es plötzlich, und es löscht sie aus

und nimmt sie ein, und sie gelangen zum Leuchten: Sie erreichen

das Strahlen des Seins. So gelangen sie dazu,

das zu sein, was sie sind. Treu, schweigsam,

wie die von der Sonne verdörrte Zwergeiche, sagen sie ja,

und wissen, dass es ja heißt, dass dieses Bild

– der Glanz eines stehenden Wassers oder, wenn der Abend kommt,

ein Schattenplatz im Herzen der Gestrüppheide –

dasjenige ist, was sie sind, dass es sie ruft, um dort zu sterben,

und dieser Tod ist ein Nicht-mehr-Leben,

keine Unterbrechung und auch kein Warten.

Sie sagen ja und spüren, dass sie nichts zu bedauern brauchen,

dass sie nichts zu erwarten brauchen, dass nichts unterbrochen wird,

weil alles schon vorher da war:

Sie lebten stets die Zeit des Schattenplatzes

und die Zeit des stehenden Wassers auf dem Brunnengrund.

Wenn wir, des Nachts, nahe am Rauschen vorbeigehen,

das der Wind in den Blättern der Pappeln verursacht,

oder wenn wir, in der glühenden Herrlichkeit des Mittags,

in einer Handvoll Weinbeeren die Helligkeit pflücken,

oder wenn wir die Fensterläden halb schließen – die Sonne

hämmert auf die leeren Straßen – und uns ein Körper

einen warmen Hauch von Zitrone gibt,

oder wenn wir, im Wald, einen roten Stein sehen

oder ein Knistern von Wasser und Zweigen hören –

wissen wir denn dann, dass alles nur dieser einzige Augenblick sein wird?

Erwarten wir denn etwas anderes? Ohne Gedächtnis,

als Enteignete, kann uns die Zeit nicht mit Lichtreflexen blenden,

stört sie unsere Augen nicht mehr mit dem Widerschein von Feldspat.

Ich bin mein Gestern und spüre die Unmittelbarkeit

der Zukunft, die in jeder Gladiole pocht.

Sie lauert uns nicht hinter dem Augenblick auf: Sie ist der Augenblick.

Sie hat nicht das dunkle Antlitz unserer Furcht,

noch wird man sie um Gnade bitten müssen. Spürten wir nicht

schon immer, dass wir sie mit uns führten? Verlangen,

du schwarzer Sklave mit Prinzenmaske,

und du, weiße und blinde Prinzessin, Leidenschaft,

die du lachst, gekleidet in die Helligkeit der Lilien, –

spürt ihr nicht, dass der Augenblick eure Zeit ist?

Nichts gewinnen wir, nichts verlieren wir. Die Toten

leben die ewige und nächtliche Zeit des Nebels,

den Augenblick, der alle Zeiten ist. Die Zeit des Verlangens

und die der Leidenschaft, die Zeit zu erinnern

und die Zeit zu träumen. Die Dunstschwaden

und eine Rauchwolke wie von frischem Holz

sagen, wo unsere Träume sind: weit entfernt,

wie die Blitze in einer Sommernacht.

Gimferrer, Pere: Die Spiegel. Der öde Raum [edició bilingüe]. Traducció d’Axel Sanjosé. Munic: Hanser Verlag, 2007.

Traduït per Àxel Sanjosé

Àxel Sanjosé
Foto: Bettina Otto, KMS TEAM